Eikonal: Kernschmelze staatlicher Integrität

Illustration: (CC-BY-NC-ND) cptLeto

Beitrag von Daniel Schwerd erschienen auf der Bundes-Website.

Die Piratenfraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen hat dem Landtag einen Antrag vorgelegt, den millionenfachen Grundrechtsbruch durch “Eikonal” zu verurteilen. Daniel Schwerd, netzpolitischer Sprecher der Piratenfraktion, erklärt, was “Eikonal” ist, und warum es so ungeheuerlich ist, was da passiert ist:

Aus der deutschen Geschichte, vor allem der NS-Zeit, haben wir das Bewusstsein gewonnen, dass Rechtsstaatlichkeit ein hoher Wert ist. Sie zu verteidigen ist uns von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes zu einer Verpflichtung erhoben worden.

So erklärte einmal Konrad Adenauer: „Demokratie ist mehr als eine parlamentarische Regierungsform, sie ist eine Weltanschauung, die wurzelt in der Auffassung von der Würde, dem Werte und den unveräußerlichen Rechten eines jeden einzelnen Menschen“.

Es ist nicht bekannt, ob Adenauer dies an einem Sonntag sagte. Bekannt hingegen ist, was er veranlasste, als sein Innenminister Hermann Höcherl einst verfassungsgesetzlich geschützte Grundrechte mit den Füßen trat. Dieser erlaubte dem Verfassungsschutz, von alliierten Nachrichtendiensten gesetzwidrig abgehörte Telefongespräche und ausgespähte Briefe der Bürger auszuwerten. Bürgerrechte, die laut Grundgesetz Artikel 10 unverletzlich sind.

Die Antwort lautet: Er veranlasste nichts! Selbst, als jener Innenminister über den bekannt gewordenen Grundrechtsverstoß spottete und dazu nur hämisch anmerkte (ich zitiere) „Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“.

Daraufhin geschah: Wiederum nichts! Entfernte der Bundeskanzler damals einen solchen Mann aus seinem Amt? Nein, er stellte sich noch hinter ihn. Der Bürger rieb sich die Augen.

Eine bittere Lektion, so den Unterschied zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit zu enthüllen.

Seitdem sind mehr als fünfzig Jahre vergangen. Die Welt hat sich verändert. Die Mauer ist gefallen. Der „Unrechtsstaat“ der DDR ist passé. Und sogar Gregor Gysi erklärte aus den Erfahrungen im anderen Teil Deutschlands: „Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit.“

Gleichwohl haben sich zwischen 2004 und 2008 die Dinge wiederholt. Diesmal stellte sich im Nachhinein heraus, dass der Bundesnachrichtendienst grundgesetzlich geschützte Informationen an den amerikanischen Geheimdienst NSA weitergab.

Dies geschah vom deutschen Internetknotenpunkt De-Cix aus und hätte – wenn überhaupt – nur in sehr wenigen begründeten Einzelfällen und mit Richtervorbehalt geschehen dürfen. Das wusste der BND sehr genau. Denn zumindest versuchte er erfolglos, aus den weitergeleiteten Daten und Inhalten diejenigen der deutschen Benutzer herauszufiltern. Die Beamten hatten also ihr Grundgesetz diesmal sehr wohl unter dem Arm. Aber nicht die Politik!

Als feststand, dass der angestrebte Filter nicht hinreichend funktioniert und innerhalb des BND ernste verfassungsrechtliche Bedenken geäußert wurden, was geschah? Man setzte die Praxis des systematischen Verfassungsbruchs ungerührt weiter fort!

Damit noch nicht genug. Den politisch Verantwortlichen war sehr wohl bewusst, dass es den US-Amerikanern nicht um die Abwehr einer akuten Terrorgefahr ging. Vielmehr geht aus den inzwischen enthüllten Unterlagen eindeutig hervor, dass das Interesse der USA an Wirtschaftsspionage an vorderste Spitze stand.

So rufen wir Piraten in dem hier vorliegendem Antrag dazu auf, aus der massiven Grundrechtsverletzung diesmal Konsequenzen zu ziehen.

Weder gibt es einen Grund, die Wahrung der verfassungsmäßigen Grundrechte einer wie auch immer gearteten „Staatsräson“ unterzuordnen. Der Preis dafür wäre die Glaubwürdigkeit unseres Staatswesens zu unterminieren.

Noch kann eine wie auch immer begründete vage „Bedrohungslage“ die Preisgabe von zentralen Verfassungsrechten rechtfertigen. Kant drückte das so aus: Der Sinnspruch des Notrechtes heißt zwar “Not hat kein Gebot”, doch kann es keine Not geben, die aus Unrecht Recht macht.

Wenn Sie anderer Meinung sind, sollten Sie sich schleunigst eine Antwort auf die Frage einfallen lassen: Wie oft soll den Bürgern dieses Landes eigentlich noch diese bittere Lektion zugemutet werden?

In Sonntagsreden werden Verfassungsstaat und die Rechtsstaatlichkeit beschworen, im politischen Alltag aber soll es zu einer Binsenweisheit werden, dass zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit Welten liegen? Dies wäre die Konsequenz aus der Normativität des Faktischen. Das ruiniert jedes Vertrauen in den Staat.

Auch die Bundesregierung hat inzwischen erkannt, wie weit die Angelegenheit greift. Doch welche Schlussfolgerung zog sie daraus? Sie sanktionierte das Bekanntwerden weiterer Details auf das Schärfste und klassifizierte die Vernehmung eines hochrangigen BND-Mitarbeiters zu Eikonal mit der höchsten denkbaren Geheimhaltungsstufe ein.

Aufgeschlüsselt bedeutet diese laut Geheimschutzordnung des Bundestags, dass die Weitergabe von Kenntnissen an Unbefugte “den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden würden”.

In der Tat haben wir es mit einem derart ernsthaften Fall des Versagens staatlicher Vertreter zu tun, dass man von drohender Kernschmelze staatlicher Integrität sprechen kann. Den Bezug zu NRW habe ich im Antrag deutlich hergestellt. Mit unserem Antrag haben Sie die Gelegenheit, sich verantwortlich dazu zu positionieren.


Kommentare

5 Kommentare zu Eikonal: Kernschmelze staatlicher Integrität

  1. Ralf Badera schrieb am

    Das alles ist schon ziemlich skandalös, insbesondere wie mit dem NSA-Untersuchungsausschuss umgegangen wird. Was ich noch übler finde: Dass weder die Medien noch die Bevölkerung Druck machen. Mindestens so lange, bis es nachprüfbare Änderungen der Überwachungspraxis (für die Bürger im positiven Sinne) gibt und die Verantwortlichen für die unzähligen Verfassungsbrüche zur Rechenschaft gezogen werden.

    Des weiteren zum Text:
    “soll es zu einer Binsenweisheit werden, dass zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit Welten liegen? Dies wäre die Konsequenz aus der Normativität des Faktischen. Das ruiniert jedes Vertrauen in den Staat.”
    –> Bei der Gehirn gewaschenen (“dient doch der Sicherheit – Terror und KiPo!”) Mehrheit der Bevölkerung nicht. Oder ich bekomme es nicht mit. Und es ist nicht einfach gegen zu argumentieren, wenn danach gefragt wird, was denn Schlimmes seit Beginn der Überwachung in den 60er Jahren passiert sei, was auf diese unrechtmäßige Vorgehensweise zurück zu führen ist.

    “In der Tat haben wir es mit einem derart ernsthaften Fall des Versagens staatlicher Vertreter zu tun, dass man von drohender Kernschmelze staatlicher Integrität sprechen kann.”
    –> Erstens kann man bzgl. Versagens anderer Meinung sein, nämlich dass es sich um kein Versagen aus Unwissen, sondern um Vorsatz handelt. Zweitens wird das ignorante und arrogante Politiker-Verhalten ja auch noch dadurch legitimiert (zumindest sehen sie es wohl so), dass sie “demokratisch” gewählt wurden und es auch bei brisanten Themen nur noch lethargische Reaktionen in der Bevölkerung gibt. Da wünscht man sich tatsächlich alte Zeiten zurück, wo für weniger (schlimmes) viel mehr losgereten wurde. Volkszählung in den 80ern – Aufschrei! Edward Snowdens Enthüllungen (die um längen perfideres und schlimmeres Vorgehen aufdecken) heute – Aufschrei? Wo? Konsequenzen? Wo? Das hat vieles von einer Schafherde, die einmal kurz aufschaut und dann weiter grast. Einstein lässt grüßen.

    Wohin das alles führt? Ich habe da so meine Befürchtungen. Jedoch auch die egoistische Hoffnung, dass ich das nicht mehr miterleben muss.

    • Dirk schrieb am

      > und es auch bei brisanten Themen nur noch lethargische Reaktionen in der Bevölkerung gibt
      Genau das ist der Punkt! Deine Hoffnung jedoch muss ich enttäuschen. Wenn Du nicht 95+ bist jedenfalls…

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