Beitrag von Christiane vom Schloss erschienen bei der Flaschenpost
Armut ist ein Phänomen, das wir längst besiegt glaubten. Wir leben in Deutschland, in einer gefestigten Demokratie und verzeichnen seit Jahren ein solides Wirtschaftswachstum. Uns sollte es laut der volkswirtschaftlichen Bilanzen immer besser gehen. Für diejenigen, denen es nicht so gut geht, gibt es ja das sogenannte „soziale Netz“. Durch das verbriefte Recht der sozialen Gesetzbücher wird jedem geholfen, wortwörtlich steht im §1 SGB II: “Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.”
Klingt nach stetigem Fortschritt, nach zunehmender sozialer Gerechtigkeit-
Früher war das nicht so…. Beispielsweise kann ich mich noch an meine Großmutter erinnern. Sie stammte aus Polen und hat nie richtig Deutsch gelernt. Nimm mehr Butter, Kindchen, hat sie öfter gesagt. „Würde“ war ihr egal, „soziale Gerechtigkeit“ war für sie wenig maßgeblich. So viel zu der prägenden Erfahrung der Nachkriegszeit bei einem Menschen, der wirklich arm war und es ein Leben lang blieb. Das ist vorbei, sollte man meinen, zum Glück !
Wären da nicht diese Nachrichten, dass neben der unserer positiven Wirtschaftslage auch die Armutsquote ein Rekordhoch erreicht hat. Bereits Ende letzten Jahres präsentierte der Paritätische Wohlfahrtsverband den Armutsbericht 2013 und legte in diesem Jahr einen weiteren differenzierten Bericht zum Thema „Armut in Deutschland“ vor.
Schon im ersten Teil des Armutsberichts wurde deutlich, dass in unserem Land die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander klafft: Seit 2006 ist die Armutsquote in Deutschland kontinuierlich gestiegen und zwar jüngst auf 15,2 %. Das heißt, 15,2 % der Menschen in Deutschland gelten als arm.
Unterschieden nach Regionen ergibt sich im Ruhrgebiet eine Quote von 16,6 % beim Schlusslicht Bremen 23,1% . Ebenfalls stark getroffen sind Sachsen (18,9%), Sachsen-Anhalt (20,9%), Berlin (21,2%), Brandenburg (18,3%), Mecklenburg-Vorpommern (22,9%) sowie verschiedene Städte.
Dem Bericht zufolge droht in verschiedenen Regionen das Wegbrechen der Wirtschaftskraft, die Vernichtung sozialer Infrastruktur und die soziale Verödung ganzer Regionen. Demgegenüber verbesserten Bayern (11,1%) und Baden-Würtenberg (11,2%) ihre Position weiter, wodurch sich die Kluft zwischen zunehmend ärmeren und reicheren Bundesländern manifestiert.
Die nationale Armutskonferenz (nak) bewertete die Ergebnisse der ersten Studie als alarmierend. Deshalb forderte die Armutskonferenz schon vor Monaten die Erhöhung der Regelsätze der ALG II Empfänger, mehr Beschäftigungssmodelle für Langzeitarbeitslose und die Verstärkung des sozialen Wohnungsbau.
Diese Forderungen wurden durch den zweiten Teil des Armutsberichtes des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes eindrucksvoll untermauert: Armutsgefährdet sind Arbeitslose (59,3 %) und Alleinerziehende (41 %), zunehmend ältere Menschen (14,3%); auch noch im Fokus die Kinderarmut (15,1%). Immer mehr ALG II -Empfänger verschulden sich aufgrund der zu niedrigen Regelsätze. 2012 mussten 16.833 die Jobcentermitarbeiter Darlehensanträge bearbeiten, was belegt, dass die Grundsicherung kaum für das Notwendigste ausreicht. Verschlechtert hat sich die Situation der Langzeitarbeitslosen, denn die Fördermaßnahmen hatte die Merkel- Regierung halbiert, also 50% gestrichen. Damit musste ein erhöhter Verwaltungsaufwand finanziert werden. Zunehmend mehr Menschen arbeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen (Midi oder Mini-Jobs) und sind mit der Arbeitslosigkeit sofort auf Aufstockung durch Hartz IV angewiesen. In Essen bezogen 83% der Erwerbslosen Arbeitslosengeld II. Die Arbeitslosenversicherung greift nicht mehr- die Dunkelziffer der Menschen, die Leistungen beziehen könnten, dies aber nicht wollen ist, kann nur geschätzt werden. Mutmaßlich kommen auf einen Leistungsbezieher zwei Berechtige, die verzichten. Besonders ineffizient war die Familienpolitik: Das Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder (BUT) wurde kaum in Anspruch genommen. Nur 60,4 % wurden wie vorgesehen verwendet. Von dem wenigen abgerufenen Geld kam bei den Kindern noch weniger Leistung an als vorher. Die Gründe dafür sind vielschichtig, möglicherweise wussten die Eltern nicht, was ihren Kindern zusteht oder sie wollten die Diskriminierung der Kinder durch die Inanspruchnahme des BUT vermeiden.
Der größte Teil der geplanten Gelder des BUT ging erneut für Verwaltungsaufwand drauf: Die Gelder für die Kinder überwies der Bund pauschal an die Kommunen. Diese zweckentfremdeten die nicht abgerufenen Gelder für eigene Zwecke, um ihre Haushalte zu entlasten. Und schließlich wurde ja noch das umstrittene Betreuungsgeld eingeführt: Da ohnehin nur Ein-Einkommen-Familien davon profitieren konnten, blieb im Fazit nicht mehr als eine hohe Investition in ein überkommenes, altmodisches Familienmodell. Denn nicht einmal wirklich bedürftigen Eltern konnte diese teure Maßnahme helfen, weil das Betreuungsgeld auf den Regelsatz bei Hartz IV angerechnet wird. Abschließend wären da noch gesetzliche Missgriffe bei Renten, Kranken- und Pflegeversicherung—
Alles in allem ist der Armutsbericht 2013/14 ein Armutszeugnis für die Merkel-Regierung. Aber für die GroKo sieht es auch nicht besser aus: Der gepriesene Mindestlohn von 8.50 € sichert den Menschen nicht die Existenz sondern den Gang zum Jobcenter als Aufstocker. Denn das Höchsteinkommen liegt unter dem Regelsatz von Hartz IV. Im Grunde ist dies jedem klar, der einen Taschenrechner hat. Wer 37,7 Stunden arbeitet erhält 1.036 € netto, schon wenn die Miete 350 €uro kostet, reicht das Geld nicht mehr für das Lebensminimum.
Meine Großmutter kann sich jeder irgendwie vorstellen, aber die Zahlen der Statistik sind anonym und damit auch die Menschen. Sie sagen uns, dass zum Beispiel in Berlin jeder fünfte Mensch als „arm“ gilt und dass das Folgen hat – für uns alle! Denn je nach Bundesland wird die Anzahl der armen Menschen größer. Das ist eine Kettenreaktion. Geschäfte geben auf, die Verkehrsinfrastruktur lohnt nicht mehr, Menschen ziehen weg, die soziale Verödung ganzer Gebiete folgt.
Auch das alles klingt abstrakt. Weil wir sie nicht sehen, diese neue Armut in unserem Land. Zu lange schon glaubten wir diese Krankheit besiegt zu haben. Außerdem will keiner arm sein, nicht mal die Menschen, die es wirklich sind. Armut stigmatisiert, für Armut schämen sich Menschen und Armut darf keiner sehen.
Also hatte es meine Großmutter eigentlich ganz gut, denn sie war stolz darauf, arm gewesen zu sein und es trotzdem geschafft zu haben, vier Kinder zu ernähren und groß zu ziehen. Heute wäre ihr ihre Armut peinlich. Sie würde darauf achten, ihre Lebensmittel von der Tafel zu holen und sich gleichzeitig möglichst schick zu kleiden, damit sie niemand bemitleidet oder als das erkennt, was sie ist: arm.
Aber da war doch was: §1 SGB II : “Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.”, heißt es in unseren Sozialgesetzbüchern.
Der wohlklingende Satz ist das Papier nicht wert, auf dem er steht. In Wirklichkeit sind wir der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit kein Stück näher gekommen. Dabei gibt es Lösungen, die gerechter sind, als ein kümmerlicher Mindestlohn von 8.50 €uro oder eine Erhöhung der HartzIV-Regelsatzes um 8 €uro: Schon vor Jahren haben Wissenschaftler durchgerechnet, dass das BGE keine Utopie bleiben muss, wenn, ja wenn wir das denn wollen. Wenn wir dafür kämpfen! Wenn wir durchsetzen wollen, dass das Wirtschaftswachstum bei den Menschen ankommt! Wenn wir ernst machen möchten mit den Phrasen, die Politiker gerne erwähnen, wie gesellschaftliche Teilhabe, Menschenwürde und dieser ganze Luxus, den wir uns im Moment angeblich nicht leisten können.
Wir Piraten fordern die Einführung des BGE als notwendigen Schritt in Richtung soziale Gerechtigkeit.
Kommentare
6 Kommentare zu Armut in Deutschland?
Wir müssen aufhören, Steuergelder sinnlos zu verschwenden. Dazu gehört der Umzug des Parlaments und der Regierung nach Berlin. Der Nürburgring, die Philharmonie in Hamburg, der neue Berliner Flughafen, die vielen Zusammenbrüche von Landesbanken usw. Das Geld muss in sinnvolle Ausbildung investiert werden und in Neugründungen von kleinen Firmen. Auch die Verschwendung von Entwicklungshilfe muss gestoppt werden. Kein Geld an korrupte Regierungen. Direkte Hilfe an die Bürger, so wie die Microkredite zum Beispiel.Und Menschen, die direkte Hilfe benötigen, muss sie auch unbürokratisch gewährt werden. Jeden Tag verschwenden wir ca. 30% unserer Lebensmittel und gleichzeitig gibt es Menschen bei uns, die zu wenig zum Essen haben.Das wäre doch ein dankenswertes Betätigungsfeld für die Piratenpartei. Für die nächsten 4 Jahre alle Wahlen vergessen und die dafür eingesparte Arbeit auf direkte Unterstützung von Menschen investieren. Wenn Unterstützungskonzepte sich in der Praxis bewährt haben, werden die Wähler von alleine kommen und auch mehr Menschen aktiv in der Piratenpartei mitarbeiten. Aber erst einmal muss die Piratenpartei durch praktisches Handeln beweisen, dass sie vertrauenswürdig ist und aktiv daran arbeitet, wichtige gesellschaftspolitische Ziele zu verwirklichen.
Moin Claus,
das ist ja jetzt schon etwas pauschal, oder?. Natürlich sind staatliche Ausgaben gerechtfertigt. Die Projekte sollten nur ordetlich geplant sein, nicht von Dilletanten durchgeführt. Warum soll Berlin keinen grösseren Flughafen bekommen wenn er gebraucht wird? Dass scheinbar überforderte Planer die Sache (zusammen mit viel Geld) in den Sand setzen ist zu beklagen! Aus meiner Sicht haben auch die Landesbanken ihre Existenzberehtigung – wenn sie nur täten was man von einer Bank gemeinhin erwartet: Projekte im Land zu finanzieren. Sie wurden aber zu Altersruhesitzen höherer Beamter und schaufeln dort die Gelder in tiefe tiefe Taschen. Ein Beispiel dass es anders gehen kann ist die KfW in Berlin! Faktisch staatlich agiert sie in einem politisch brisanten Umfeld sehr erfolgreich.
Da ist, bei Grossprojekten wie bei den Landesbanken, viel Restrukturierung notwendig. Allerdings braucht es in der Partei auch die Fachleute dazu. Für Spezialisten im Finanzdienstleistungsbereich scheint die Piratenpartei derzeit kein angenehmes Betätigungsfeld zu sein, da das Misstrauen gegenüber Banken und ihrer Mitarbeiter hier allgegenwärtig ist. Erst wenn wir diesen Generalverdacht beerdigen bekommen wir fähige Leute und mit ihnen tragbare Positionen. Damit können wir dann überzeugen und gesellschaftspolitisch wichtige Ziele verwirklichen. Ein langer Weg. Er beginnt mit “Vertrauen schaffen”.
Bei dem ansonsten begrüßenswerten Beitrag kann ich die Argumentation gegen das Betreuungsgeld nicht nachvollziehen: Es handelt sich ausdrücklich nicht um eine Leistung an Kinder, sondern um die Bezahlung von Erziehungsleistung, wie sie auch das Arbeitsentgelt des Kita-Personals darstellt. Die Leistungserbringung durch die Eltern kommt dabei die öffentlichen Haushalte wesentlich günstiger als teure Kita-Plätze. Wenn man also etwas in Frage stellen will, dann das, ob es sinnvoll ist, Steuergelder für die Betreuung Ein- bis Dreijähriger auszugeben. Letzteres ist dann gerechtfertigt, wenn man Kindererziehung nicht als reine Privatsache sieht, sondern als auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegend.
Ich persönlich halte es für wichtig, die Betreuung ein- bis dreijähriger Kinder für eine Gesamtgesellschaftliche Aufgabe anzusehen und allen Eltern eine möglichst flexibel und qualitativ gute Kita-Betreuung anzubieten. Insbesondere was den Betreuungsschlüssel (also die Frage wie viele Kinder ein Erzieher/Erzieherin betreuen muss) anbelangt, ist noch viel zu verbessern und dies würde den Steuergelder noch viel Geld kosten. Wenn man dies als Investition sehen möchte, kann man ins Felde führen, dass Statistiken die Wichtigkeit frühkindlicher Entwicklung belegen, also zeigen, dass sich die Investition für die Gesellschaft auszahlt.
Das Betreuungsgeld wurde oft sarkastisch als “Herdprämie” bezeichnet, weil es Ein-Einkommens-Familien bevorzugt. Natürlich könnte man es durchaus als staatliche Anerkennung sehen, die verdeutlicht, dass damit die erzieherische Leistung der Familien anerkannt wird. Ursprünglich wurde es eingeführt, da August 2013 die Befürchtung bestand, dass die Anzahl der geschaffenen Kita-Plätze könnte nicht ausreichen und eine Klagewelle würde folgen. Dem war nicht so.
Ich persönlich finde das Betreuungsgeld problematisch, weil es Eltern, die Hartz IV beziehen, das Betreuungsgeld angerechnet bekommen. Auch Alleinerziehende können davon nicht profitieren. Daher ist eben die Frage, ob das Konzept prinzipiell gerecht ist. Aber das ist wirklich Ansichtssache.
http://www.fr-online.de/arbeit—soziales/betreuungsgeld-hartz-iv-betreuungsgeld-statt-hartz-iv,1473632,24598802.html
In Anspruch genommen wird es laut Statstiken von Familien mit geringeren Einkommen, daher wird öfter kritisiert, dass das Betreuungsgeld dazu beiträgt, dass Kinder schlechtere Bildungschancen haben, also der Gesellschaft nicht nützlich ist. So würden falsche Anreize gesetzt. Was denkst du?
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/betreuungsgeld-union-verteidigt-umstrittenen-familienzuschuss-a-983262.html
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/betreuungsgeld-setzt-laut-studie-falsche-anreize-a-974611.html
@Christiane: Auf Hartz IV wird jede Form von Einkommen angerechnet, also auch Betreuungsgeld, aber das ist kein Fehler des Betreuungsgeldes, sondern von Hartz IV, das keine Anreize setzt, hinzuzuverdienen, sondern dafür Hindernisse aufbaut. Ich halte es für wichtig, dass Vorschulkinder die Kita besuchen, aber bei Ein- bis Dreijährigen sehe ich keine Gefahr für Entwicklung und Bildungschancen, wenn sie das nicht tun. In diesem Alter brauchen Kinder vor allem individuelle menschliche Zuwendung, und vielen Kitas fehlt aus Kostengründen einfach ein entsprechend hoher Personalschlüssel. Diese Zuwendung bekommen die Kleinkinder aber – von seltenen komplett gestörten Familienverhältnissen einmal abgesehen – in der Familie, und da sind Bildungsstand, Sozialstatus Migrationshintergrund etc. der Eltern völlig zweitrangig.
Ich war armer Leute Kind. Die Armut war damals anders definiert als heute. Heute wird sie professionell festgelegt, um mit Zahlen Politik zu machen. Ich habe ein Handy für 20 E . Bin ich deswegen arm? Gruss DGF Schliersee