Ketzer und Revolutionäre unter Piratenflagge

Pirates - Outside the Opera House. Pirate flags are everywhere in downtown Norfolk | CC BY 2.0 Roger Gregory

Beitrag von Parzival erschienen bei der Flaschenpost

Galileo – Naturwissenschaftler, Ketzer, Visionär | CC BY 2.0 shizhao

Galileo – Naturwissenschaftler, Ketzer, Visionär | CC BY 2.0 shizhao

Folgen wir großen gemeinsamen Visionen und streben nach realistischen Utopien oder verlieren wir uns selbst in alltäglichen Machtkämpfen um kurzfristige Erfolge, Mandate und Jobs? Segeln wir einem Horizont entgegen, der weit über uns selbst hinaus reicht oder bleiben wir in der Bucht der Alternativlosigkeit des bestehenden Systems und der Machtspiele nur selbstbezogen mit unseren Egos liegen? Welchen Spielraum zur (pro)aktiven Gestaltung der Politik und damit der Zukunft haben Piraten auf den festgelegten Bahnen unserer repräsentativen Demokratie im Rahmen des aktuellen Parteiengesetzes, auf den festgefügten Bahnen des Politbetriebes? Was gilt es infrage zu stellen und zu verändern, gar zu revolutionieren? Wo sollten oder müssen sich Piraten anpassen und sich in das Bestehende einarbeiten? Wo sind die rote Linien, hinter denen Piraten für die Teilhabe an der Macht ihre Überzeugungen und jedes ihrer politischen Kernprinzipien wie Transparenz, Teilhabe, Datenschutz, offene Gesellschaft ohne Ausgrenzen von Menschen und Freiheit opfern? Ab wann verraten wir den ganz großen, grundsätzlichen Entwurf und läuten den Alltag ein? Ab wann gehen wir den Weg der Grünen in die Alternativlosigkeit für die Teilhabe an der Macht als Erfüllungsgehilfen des Kapitals? Wo liegen gefährliche politischen Fallen?

Ehrliche Visionen bzw. realistische Utopien für eine gemeinsame Zukunft der Teilhabe aller entwickeln noch inmitten der dürftigsten Verhältnisse eine Schubkraft, wenn sie vorbildlich im Kleinen vorwegenommen und vorgelebt werden. Diese werden dann von immer mehr Menschen getragen und überzeugen sie wieder davon, dass ihre politische Teilhabe und ihr Engagement Sinn macht. Mit Sinn im Sinne von Überschreitung von reinem persönlichen Zweck- und Nutzen-Denken, die uns den Antrieb für übergroße Anstrengungen schenkt. Visionen bzw. realistische Utopien zu haben, heißt, etwas zu denken, was im Moment noch nicht denkbar ist oder noch weit außerhalb der Möglichkeiten zu sein scheint. Es sind Vorstellungen, zu deren Verwirklichung heute noch Elemente fehlen, die anfangs nur wenigen einleuchten und die Experimentierfreude, Offenheit für neues Denken, Kraft und Ausdauer in einer gewaltfreien Revolution der Geduld mit dem Glauben an das Ziel erfordern. Es genügt nicht, Wege, Programme und Ziele zu beschreiben, sondern es braucht die Schubkraft der Vision bzw. realistischen Utopie und des glaubwürdigen Vorbildes im Kleinen, die die Menschen auf dem Weg zum Ziel begeistern. Aber Vorsicht! So sehr Visionen und Utopien der politischen Mobilisierung dienen können, so leicht tendieren sie auch dazu, sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Sie können auch Illusionen nähren und damit auch zwangsläufig zur Desillusionierung und Entpolitisierung führen. Mit dem BGE und einer mehr Commons-orientierten Wissensgesellschaft der Teilhabe aller ohne Gleichmacherei und Konformitätszwang, einer Shareconomy mit einem neuem Arbeitsbegriff, größtmöglicher Dezentralisierung und Gewaltenteilung, der größtmöglichen Vielfalt und Freiheit aller und einer Politik, die wieder den Menschen dient, haben die Piraten schon erste Visionen bzw. realistische Utopien angerissen, die es gemeinsam mit vielen Menschen und nicht nur für diese weiterzuentwickeln und im Kleinem auszuprobieren gilt. Diese Visionen bzw. realistischen Utopien stellen das bestehende Herrschaftssystem des Kapitalismus infrage. Sie bilden Alternativen zur angeblichen Alternativlosigkeit. Wir befinden uns in einer historischen Übergangszeit, einem Verwandlungszeitraum, in dem grundlegende Weichenstellungen erfolgen. Entweder geht das globale Weltsystem des Kapitalismus mit seinen verschiedenen Staaten unter Demokratie- und Sozialabbau in ein System von totalen Überwachungsstaaten als Institutionen einer weltweiten Diktatur des Kapitals über, oder in ein freies System weltweiter Demokratien und anderer von den Menschen legitimierten Gesellschaftsordnungen mit mehr Teilhabe aller und größtmöglicher Vielfalt. Die große Herausforderung für die Piraten ist es, über die laufenden Probleme des alltäglichen Lebens im noch herrschenden System die fernen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Jene sekundären, untergeordneten aktuellen Ziele sind ohne Zweifel ebenfalls wichtig und bergen verschiedene Fallen.

Für die Piraten ist eine mögliche Falle und Herausforderung zum Verändern, dass das politische System der repräsentativen Demokratie in Deutschland mit seinem Parteiengesetz Anpassung und in vielen Fällen den Berufspolitiker erzwingt. Es ist eine große Gefahr, wenn viele Mandatsträger außerhalb der Politik keine berufliche Perspektive mehr haben und ohne ein BGE nicht finanziell abgesichert sind. Bei politisch aktiven Menschen, die nirgendwo sonst beruflich Fuß gefasst haben, könnte Parlamentarier zu sein und zu bleiben das größte politische Ziel werden, als Alternative zu Hartz IV. Das kann dann zu unerbittlichen internen Machtkämpfe um Mandate, Funktionen und Jobs bis hin zum Segeln unter falscher Flagge und Wechseln in andere Parteien führen. Der Politikbetrieb insbesondere in Landesparlamenten und im Bundestag selbst konfrontiert jeden Politikeinsteiger mit Problemen, auf die er als politischer Aktivist nicht vorbereitet ist. Er verfängt sich schnell im Spinnennetz geschriebener und ungeschriebener Regeln. Welche Bedeutung hat welcher Ausschuss und seine Besetzung? Welche Fristen und Spielregeln sind wofür einzuhalten? Wer darf wann wo reden? Welche formellen und informellen Kanäle gibt es? Welche Macht hat die Verwaltung? Welche Mitarbeiter stelle ich ein und wie führe ich sie. Unsere internen GO- und Wahlverfahren-Schlachten sind nur ein Vorgeschmack dafür, wie Inhalte von reinen Verfahrensfragen und Machtspielchen verdrängt werden. Daraus ergibt sich eine der größten Herausforderungen für die Piraten vor allem als Mandatsträger: Sie dürfen sich nicht das Blickfeld auf die Politik ausschließlich auf das verengen lassen, was innerhalb der engen Grenzen der aktuellen, menschengesetzten Grenzen der Parlamente möglich sei. Statt ihre Überzeugungen zu opfern für etwas Teilhabe an der Macht, ist es ihre Aufgabe, diese Macht, Grenzen und Spielregeln systematisch infragezustellen. Sie durch mehr Transparenz (open government), neue Teilhabemöglichkeiten (liquid democracy mit SMV, open Antrag, BGE, neuer Arbeitsbegriff) und andere Experimente grundsätzlich weiter zu entwickeln und zu verändern statt sich nur anzupassen. Ich hoffe, dass Piraten nie als Aufklärer ohne Aufklärung in Untersuchungsausschüssen ins gleiche Boot steigen, in dem Aufklärer und die, deren Handeln aufgeklärt werden soll, als Amigos zusammen sitzen. Das Märchen vom Blaubart zeigt, wie leicht Menschen in die Opferrolle geraten und sich in der Identifikation mit dem Angreifer selbst verlieren können. Der Mensch als Politiker muss bereit sein, auf vordergründige Macht und Ansehen bei den Etablierten zu verzichten, um sich selbst und seinen ursprünglichen Zielen treu zu bleiben.

Noch gefährlicher wie die Machtspiele im Politbetrieb sind die innerparteilichen Kämpfe. In jeder Partei können sich Cliquen der Macht formieren, die ähnlich wie die Mafia in wirtschaftlichen Systemen die heimliche Kontrolle über eine Partei erringen wollen. Das führt zu einem mehr oder weniger heimlichen Zwang zur Konformität, zur innerparteilichen Kontrolle und Bekämpfung von Parteimitgliedern, die nicht der Clique angehören, wenn es um Posten, Mandate, Jobs und Deutungshoheiten geht. Wer sich dem Diktat der Clique unterwirft, wer dazu gehört, wird gefördert, wer nicht, bekämpft. Dies erfolgt durch Ausgrenzung, Wahlmanipulationen, Diffamierung, Diskreditierung bis hin zur direkten Bedrohung. Das Schlimme ist, das das Opfer meist alleine steht, da die Mehrheit der Parteimitglieder von diesen Machenschaften und Manipulationen nichts mitkriegt. Nur wenige sind erfolgreich, ohne den inneren Machtzirkeln lieb Kind zu sein. Nur wer seine polit. Eigenständigkeit bewahrt, wer sich selbst der Manipulation und dem Manipulieren entzieht, ist noch in der Lage, Aufrichtigkeit und Redlichkeit (ich liebe dieses alte, noch unverbrauchte Wort) zu bewahren und selbst seismographisch zu messen.

Die größte Gefahr geht von schauspielenden Politikern aus, die große politische Engagiertheit nur vortäuchen und dabei unter falscher Flagge segeln, weil sie ihre proklamierten Ziele längst der persönlichen Karriere willen verkauft haben. So gilt es immer wieder die Ernsthaftigkeit und die Stimmigkeit von Worten und Taten zu überprüfen, um so mehr der einzelne sich selbst für hörere Aufgaben empfehlen will und vor allem, wenn er vom politischen Widersacher und den Medien mit hochgelobt wird.

Die Parteien agieren heute mehr und mehr nur noch als gekaufte Verwalter und Manager der Macht und als Diener der selbstgeschaffenen Sachzwänge. Dabei werden von den Parteien der vorgeblichen Alternativlosigkeit nahezu allen Themen von unseren (ver)führenden Politikern für zu wichtig erklärt, oder als geheim eingestuft (NSA- und NSU-Akten, TTIP-Verhandlungen, Waffenexporte), als das sie zum Gegenstand grundsätzlicher, offener öffentlicher politischer Diskurse werden dürfen. Je bedeutender politische Fragen (wie ESM oder gar Krieg), je mehr sie unmittelbar in das Leben der Menschen eingreifen (wie BER oder S21), in desto stärkerem Maße werden sie dem Parteienstreit (vor allem im Wahlkampf) und damit der breiten öffentlichen Diskussion entzogen. Öffentlich gestritten wird nur noch über Randthemen und Skandale. Grundsatzfragen werden mehr und mehr zum Tabu. Die Folge ist die zunehmende Entpolitisierung.

Aus meiner Sicht ist es die historische Aufgabe der Piraten, zu Ketzern und Revolutionären des aktuellen politischen Systems zu werden, die mit immer neuen Experimenten mutig, erst vorbildlich im Kleinen, neue Politik- und Gestaltungsmöglichkeiten ausprobieren und erobern. Das heißt die Rolle des Außenseiters selbstbewusst annehmen.

Ketzer und Revolutionäre sind lebensnotwendig für eine Gesellschaft, die in Besitzstandswahrung, Entpolitisierung und dem Mythos der Alternativlosigkeit des herrschenden kapitalistischen System erstarrt. Ketzer bezeichnet Menschen, die jenseits aller herrschenden Ideologien und Mythen, neue Antworten einfordern, neue gesellschaftliche Experimente wagen und vorleben. Ketzer sind unangenehm, ja beängstigend für die heute Privilegierten und Nutznießer des Systems, sie gehen nicht konform mit der allgemeinen Selbstverständlichkeit, stellen Bestehendes grundlegend (radikal) in Frage. Ketzer deformieren nicht die Suche nach Wahrheit in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zu einer Technik, Sicherheiten und Herrschaftsstrukturen zu verstärken. Ketzern verzeiht man nicht, das sie im Porzellanladen der Selbstverständlichkeiten, Mythen und Gewohnheiten herumtrampeln, in dem der Konsumuntertan seine Idendität und seine Antworten auf existentielle Antworten einzukaufen gewohnt ist.

Als Revolutionäre kämpfen wir heute gegen einen zunehmend unsichtbaren Gegner, der mit seiner systemerhaltenen Macht nicht mehr repressiv, sondern verführend agiert. Die Menschen verzichten freiwillig auf größere Teile ihrer Freiheit und beuten sich immer mehr selbst aus. Wer heute scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich. Man problematisiert sich immer mehr selbst statt die Gesellschaft. Das gleiche Spiel wird auch im Politikbetrieb gespielt. Neben der Selbstausbeutung wird Politik auch immer mehr gekauft. Schritt für Schritt, Häppchen für Häppchen ziehen die Lobbyisten die Schlinge um die Politiker. Die Dummen sind, jedenfalls auf kurze Sicht, die Ehrlichen, die Redlichen. Es ist leicht, ein Amigo zu werden. Es kostet viel innere Stärke, allen Versuchungen zu widerstehen, sich selbst und seinen ursprünglichen Zielen treu zu bleiben. Um so mehr, wenn Mensch wirklich Grundlegendes verändern will/wollte, ist der eine Weg mit Steinen und Verzicht geflastert, der andere bequem und mit Honig versüßt. Unsere Gegner werden skrupellos alle unsere Fehler zu nutzen wissen.

Zum Schluss, ganz wichtig. Kein Mensch sollte in die Politik gehen, wenn er durch was auch immer erpressbar ist. In Zeiten von NSA, BND, Verfassungsschutz, Google&Co. ist sogut wie nichts mehr wirklich zu verbergen.

Voller Optimismus und Zuversicht. Das große Projekt der Piraten hat gerade erst begonnen.

Euer Parzival


Kommentare

4 Kommentare zu Ketzer und Revolutionäre unter Piratenflagge

  1. Manfred Steffan schrieb am

    Wenn ich das richtig verstehe: Wir brauchen keine mühsame Sachpolitik für den Normalbürger, denn wir haben Visionen? Die PIRATEN als Weltanschauungsgemeinschaft statt als politische Partei?

    • parzival schrieb am

      Hallo Manfred, kein Entweder-Oder sondern beides. Es braucht die mühsame alltägliche Sachpolitik wie das proaktive Denken und Handeln in Richtung der realistischen Utopien. Das eine machen bedeutet nicht das andere lassen. Die Aussage war: Über die alltäglichen Herausforderungen nicht das große Ganze und die realistischen Utopien aus den Augen verlieren. Deshalb brauch es in jeder Bewegung, Partei und Gesellschaft sowohl die Tatsachenmenschen als auch die Möglichkeitsmenschen in einem Team. Beide sind wichtig. Die Realisten und die Utopisten, die Macher und die Träumer.

      Gruß Parzival

  2. Ich verstehe den m.E. sehr gelungenen Beitrag von Parzival eher so, dass zum einen die Piraten, die politische Ämter anstreben, in sich gehen sollten, ob sie den Anforderungen eines ehrlichen und redlichen Piraten-Politikers gewachsen sind. Und andererseits wurde darin im Gegenzug auf die Verantwortung zur Achtsamkeit der Piraten-Mitglieder aufmerksam gemacht.
    Sachpolitik ist natürlich ein großer Faktor, doch wir sollten unsere Visionen nicht vergessen oder verraten. Es sind dabei keineswegs zweckorientierte, notwendige Koalitionen ausgeschlossen. Aber wir sollten uns von den anderen Parteien nicht zur Hure machen lassen, wie bei den meisten etablierten Parteien der Fall.
    Dennoch bin ich persönlich der Meinung, dass die Entscheidung der Mehrheit auf dem Bundesparteitag in Halle aus strategischen Gründen die richtige war, der Netzpolitik vorerst die Priorität einzuräumen.

  3. Martin 1093 schrieb am

    Utopien sind dafür da, angestrebt zu werden, nicht erfüllt zu werden. Wenn wir uns dieser Tatsache bewußt werden, können wir den Fundamentalismus und hoffeentlich alle anderen -ismen aus der politischen Arbeit vertreiben. Ja, ich strebe eine Ideale Gesellschaft an. Aber ich weiß, daß es diese schon aus biologischen Gründen niemals geben wird. Dazu sind die Menschen zu verschieden. Doch das wird mich niemals davon abhalten mein Bestes zu geben um die Saat dieses Ideals an meine Kinder und meine Mitmenschen bestmöglich zu vermitteln.

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