Gen-Forschung in Island stellt Fragen an uns alle

Island-Panorama | CC BY-SA Andreas Tille

Beitrag von Jürgen Wegener erschienen bei der Flaschenpost.

Kürzlich berichtete die Presse, dass in Island eine genetische Studie an 10.000 Einheimischen durchgeführt wurde, die neue Erkenntnisse über genetische Risikofaktoren für Gesundheitsrisiken wie Kreislauferkrankungen, Alzheimer oder Krebs bringen sollte.

Was auf den ersten Blick wie normale wissenschaftliche Forschung aussieht, wirft drei Fragen auf, die typisch für die vernetzte Gesellschaft sind, und auf die die Gesellschaft eine politische Antwort finden muss: Wer bekommt sensible Daten? Was macht man mit Erkenntnissen, die aus der Vernetzung der Bürger auch über Nichtteilnehmer der Forschung gewonnen wird? Informiert man Betroffene, wenn z.B. potentielle Krankheiten bei Nichtteilnehmern vermutet werden?

Patientendaten in Unternehmenshand

Die im verlinkten Artikel beschriebene Forschung wurde nicht von einer Universität oder sonstigen staatlichen Forschungseinrichtung durchgeführt, sondern von der Firma deCode Genetics. Dieses Unternehmen bietet kommerzielle Genomuntersuchungen an, vergleichbar mit dem bekannten US-Konkurrenten 23andMe.

deCode Genetics wurde 1998 von der isländischen Regierung damit beauftragt, sämtliche Gesundheitsdaten der isländischen Bevölkerung zentral zu speichern.

2003 wurde das entsprechende Gesetz dann für nicht verfassungskonform erklärt und gestoppt.

2009 meldete deCode Genetics Insolvenz an; der Kernbereich des Unternehmens wurde an US-Investoren verkauft.

Dies verdeutlicht das Risiko, sensible Bevölkerungsdaten, insbesondere medizinische Daten, in private Hand zu geben, wenn nicht sichergestellt werden kann, dass die privaten Betreiber auch langfristig in der Lage sind, die ihnen übertragenen Aufgaben zuverlässig zu erfüllen. Es muss garantiert werden, dass die Daten der Bürger auch sicher sind, wenn das Unternehmen insolvent wird oder aufgekauft wird.

deCode Genetics hat 1998 Forschungsergebnisse an Hoffmann-LaRoche verkauft. Dies verdeutlicht die Sensibilität von Gesundheitsdaten in privater Hand1.

Die Vernetzung der Gesellschaft macht praktisch alle Menschen transparent

Social Media | CC-BY-2.0 Rosaura Ochoa via flickr

Social Media | CC-BY-2.0 Rosaura Ochoa via flickr

Island ist für Genetiker besonders interessant. Dies liegt daran, dass es seit der Besiedelung Islands im Mittelalter dort weder größere Kriege oder Invasionen noch sonstige, großflächige Naturkatastrophen2 oder größere Einwanderungswellen gab. Darum liegt in den Kirchenarchiven Islands eine nahezu lückenlose Aufzeichnung der Stammbäume und Verwandtschaftsbeziehungen fast aller Isländer seit über 1000 Jahren vor. Diese Stammbäume erlauben es, Krankheiten zu identifizieren, die verstärkt zwischen Verwandten vorkommen, und die daher auf eine genetische Komponente zurückzuführen sein können. Auf dieser Basis können Forscher dann gezielt nach genetischen Besonderheiten in solchen Gruppen suchen und so die relevanten Genomsequenzen identifizieren.

Kári Stefánsson, der Vorsitzende von deCode Genetics, behauptet, aufgrund der Kenntnisse der Gene von 10.000 Isländern und deren Verwandtschaftsbeziehungen Voraussagen über die Wahrscheinlichkeit praktisch aller Isländer, gewisse Krankheiten zu entwickeln, treffen zu können, nicht nur für die 10.000 Studienteilnehmer, die der Sequenzierung ihrer Gene zugestimmt haben. Also auch für diejenigen, die nicht an der Studie beteiligt sind und von dieser möglicherweise gar nichts wissen.

Dies ist ein Phänomen, das typisch für die heutige, vernetzte Gesellschaft ist: weil jemand Informationen über Person A hat, und diese Person A mit Person B vernetzt ist (über bekannte Verwandtschaftsbeziehungen, soziale Netzwerke, gemeinsame Arbeitgeber, das gleiche Wohnviertel oder sonstige Merkmale, die die Personen verknüpfen), ist es möglich, Aussagen über Person B abzuleiten, obwohl dieser Jemand keine originären Informationen über Person B hat.

Ein aktueller Trend ist, dass solche Netzwerkinformationen extrem zunehmen. Das bedeutet, dass es immer schwerer wird, sich vor Datenanalysen zu schützen: auch Nichtnutzer etwa sozialer Netzwerke haben Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen, auf deren Basis sie analysiert und bewertet werden können.

Der Umgang mit den Ergebnissen und das Recht auf Nichtwissen

deCode Genetics’ Geschäftsführer hat nun nach eigener Aussage ein ethisches Problem. Seine Firma kann Risikopatienten für gewisse Erkrankungen in der gesamten isländischen Bevölkerung identifizieren. Darf oder muss deCode Genetics Betroffene warnen, die möglicherweise ein erhöhtes Risiko für gewissen Krebsarten haben? Ist das Warnen ein Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen, oder das Nichtwarnen Körperverletzung durch unterlassene Hilfeleistung?

Bioethiker verneinen eine Pflicht zur Information. Die Bundesregierung hat ein Eckpunkteprogramm für ein Gendiagnostikgesetz beschlossen, das sowohl das Recht auf Wissen als auch das Recht auf Nichtwissen beinhaltet. Eine solche Entscheidung des Betroffenen lässt sich dann relativ leicht herbeiführen, wenn er bewusst an einer Untersuchung teilnimmt. Wie aber geht man damit um, wenn Risikopatienten identifiziert werden, die gar nichts von der Untersuchung selber wissen, sondern lediglich aufgrund ihrer Stammbaumdaten als Betroffene identifiziert wurden? Schon die Frage an solche Menschen, ob sie Ergebnisse erfahren wollen oder nicht, beinhaltet die implizite Erklärung, dass ein wichtiger Befund vorliegt, und konterkariert das Recht auf Nichtwissen. Alternativ alle Betroffenen, unabhängig vom Vorliegen eines Befundes, zu fragen, ist selbst in einem kleinen Land wie Island nicht praktikabel. Zudem macht es kaum Sinn, permanent alle Bürger zu Studien zu befragen, die sie indirekt betreffen könnten: dies sind schlicht zu viele, und der Einzelne versteht oft den Forschungsgegenstand gar nicht.

Eine sinnvolle Grenze zu ziehen fällt hier schwer.

Ähnliche Probleme könnten in Zukunft auftreten, wenn es aufgrund von Lebensstilanalysen möglich wird, gefährdete Menschen etwa im Hinblick auf möglichen Drogenmissbrauch, Suizidgefährdung oder das Begehen von Verbrechen zu identifizieren. Soll man diese Menschen aktiv ansprechen, um ihren Lebenswandel so zu verändern, dass diese Risiken wahrscheinlich nicht eintreten? Oder sollte stattdessen die Polizei ein wachsameres Auge auf solche Menschen werfen können, indem lediglich dieser die Informationen zugeführt werden?

Und wer bestimmt, was ein Risiko, was „unerwünschtes zukünftiges Verhalten“, ist? Ist kritischer Aktivismus „unerwünscht“ oder nicht?

Das isländische Sozialministerium hat einen Sonderausschuss gebildet, der Regeln für den Umgang mit den isländischen Gendaten ausarbeiten soll. Das Ergebnis dieses Ausschusses, und die potentiellen Empfehlungen und Gesetze, die in Island erarbeitet werden, können Beispielcharakter über Island hinaus haben.

Dies ist ein weiterer Grund, den isländischen Piraten, die in Umfragen zur Zeit mit 29,1% die stärkste Partei im Parlament werden würden, viel Erfolg bei den nächsten Wahlen zu wünschen.


1 Die Natur der verkauften Forschungsergebnisse ist nicht bekannt. Es gibt keine Anhaltspunkte für die Verletzung der Privatsphäre der Isländer, aber solche Geschäfte sollten besonders kritisch beobachtet werden.

2 Erdbeben und Vulkanausbrüche ereigneten sich meist weit außerhalb besiedelter Gebiete.


Kommentare

Ein Kommentar zu Gen-Forschung in Island stellt Fragen an uns alle

  1. Rüdiger schrieb am

    Daten sind Grundsätzlich ein sehr heikles Thema. Deshalb bin ich der Meinung je mehr Daten desto mehr Toleranz und Selbstbestimmung zu Gunsten des betroffenen Individuums. Der Einzelne soll dann Informationen erhalten, wenn er sie auch wirklich haben möchte. Als Überbringer eignet sich in erster Linie eine Vertrauensperson. Das könnte z.B. sowohl ein Arzt oder ein Seelsorger mit Schweigepflicht sein.

    Dennoch Daten sind tickende Zeitbomben. Wer negativ betroffen ist benötigt definitiv mehr Schutz.

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