Kein Programm? – Nein! – Doch! – Oh

Wahlprogramm zur Bundestagswahl

Beitrag von Boris Turovskiy erschienen bei der Flaschenpost

Grundsatzprogramm | CC BY | Christian Henke

Grundsatzprogramm | CC BY | Christian Henke

“Dazu haben wir noch keinen Beschluss” war die Aussage, mit der die Piraten in vielen Interviews und Talkshows 2011 auffielen. Tatsächlich war die Intention bei der Gründung der Partei, sich auf die Kernthemen rund um Netzpolitik, Bürgerrechte und Urheberrechtsreform zu beschränken. Doch spätestens nach dem rasanten Mitgliederzuwachs 2009 machte sich der Gegenentwurf, der eine möglichst breite programmatische Aufstellung vorsah, in der Partei bemerkbar. Der Programmparteitag 2010 in Chemnitz wurde zugunsten der Vollprogramm-Befürworter entschieden, und es wurden erste Programmpunkte beschlossen, die weit außerhalb der davor präsenten Themen lagen. Seitdem wurde das Grundsatzprogramm beständig erweitert, sodass es mittlerweile auf 80 Seiten angeschwollen ist. Dennoch werden wir weiterhin mit dem Vorwurf konfrontiert, kein Programm zu haben. Diese Behauptung wurde in der Partei zunächst mit Belustigung, danach mit ansteigender Irritation begegnet. Journalisten wurden belächelt und mit dem Verweis auf das Wiki abgespeist, wenn nicht direkt verhöhnt und beleidigt. Die wenigsten in der Partei machten sich Gedanken darüber, ob es nicht eine andere Erklärung für die wiederkehrenden Fragen nach einem nicht vorhandenen Programm gibt außer der “Ignoranz” und der “piratenfeindlichen Haltung” der Journalisten und Medien. Unser Parteiprogramm enthält mittlerweile in der Tat Beschlüsse zu den meisten politischen Themengebieten. Aber erfüllt es auch die Funktionen eines Grundsatzprogramms? Um das zu beantworten, müssen diese Funktionen erst deutlich benannt werden.

Ein gutes Grundsatzprogramm dient mehreren Zwecken, die gerade für eine neue Partei sehr wichtig sind. Erstens ist ein beschlossenes, knapp gefasstes Grundsatzprogramm maßgeblich für das Bild der Partei nach außen verantwortlich. Besonders für potentielle Wähler, die nicht selber politisch aktiv sind und sich auch nicht im Detail mit hundertseitigen Wahl- oder Parteiprogrammen auseinandersetzen möchten, ist es wichtig, die grundsätzliche Haltung der Partei einschätzen zu können. Auch die aktive Außenkommunikation durch die Vorstände und Presseteams baut auf den programmatischen Grundsätzen auf, insbesondere in politischen Bereichen, zu denen noch keine konkreten Beschlüsse gefasst wurden. Bereits jetzt ist der Ablauf so, dass Statements und Pressemitteilungen aus den bestehenden Programm abgeleitet werden. Diese “Herleitungen” sind allerdings oft willkürlich, an den Haaren herbeigezogen, oder bilden nur eine von vielen möglichen Interpretationen des bestehenden Programms ab. Es ist nun zum Beispiel einmal keine leichte Aufgabe, eine Position zu einer wirtschaftspolitischen Fragestellung aus einem Programmpunkt zum Urheberrecht logisch einwandfrei abzuleiten. Das hat zur Folge, dass unsere Außenwahrnehmung entgegen aller Bekenntnisse zu Basisdemokratie in einem entscheidenden Ausmaß durch die personelle Zusammensetzung der jeweiligen Gremien und die argumentative Schlagfertigkeit Einzelner bestimmt wurde.

Die zweite Funktion eines Grundsatzprogramms ist deren innerparteiliche Bedeutung als kleinster gemeinsamer Nenner für alle bestehenden und zukünftigen Parteimitglieder. Jeder, der in die Partei eintreten möchte, tut dies in dem Bewusstsein, dass, was auch immer in Zukunft beschlossen wird, die Grundsätze der Partei unverändert bestehen bleiben werden. Menschen, die sich damit nicht identifizieren können, treten gar nicht ein, sodass der Grundkonsens fortbesteht. Niemand tritt bei den Grünen mit der Absicht ein, sie für Atomkraft zu gewinnen, oder bei der FDP, um sie von den Vorzügen des Sozialismus zu überzeugen. Dabei geht es keineswegs darum, alle heutigen und zukünftigen Mitglieder einer rigiden Positionierung zu verschreiben, deswegen ist ein ausführliches Programm, wie wir es haben dazu auch völlig ungeeignet – es gibt wohl keinen einzigen Piraten, der alle bestehenden Programmpunkte vorbehaltslos unterstützt, das ist auch nicht wünschenswert. Vielmehr muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen Meinungspluralismus, der ein elementärer Bestandteil jeder demokratischen Partei ist, und einem inhaltlichen Minimalkonsens, der die Funktionsfähigkeit der Partei sicher stellt. Indem wir aber den Pluralismus zum Absolut erklärten, haben wir die Debatte, auch über die grundlegendsten Positionen, zum Dauerzustand gemacht. Selbst die Besinnung auf Kernthemen als programmatisches Grundgerüst wurde durch die fortwährende Programmerweiterung untergraben: Da alle Programmpunkte als gleichberechtigt gelten, gibt es keinen formellen Anlass, historische Kernthemen in irgendeiner Weise als übergeordnet zu betrachten. Obwohl die damit einhergehenden Probleme bereits 2009 von Andreas Popp erkannt und ein Vorschlag zu deren Abmilderung vorgetragen (und sogar vom Bundesparteitag in Hamburg abgesegnet) wurde, gingen die mahnenden Stimmen in der Begeisterung des Aufschwungs und des Mitgliederansturms unter. Das Ergebnis ist bekannt: Mit der Zeit spaltete sich die Partei in Gruppierungen, die sich inhaltlich immer weiter voneinander entfernten, und mangels eines allgemein akzeptierten Minimalkonsenses nur zu destruktiver Auseinandersetzung im Stande waren.

Die zukünftige Programmatik der Piraten muss, wenn sie die beschriebenen Probleme aus der Welt schaffen und den Piraten wieder eine Perspektive geben möchte, in etwa wie folgt aufgebaut sein. Das Herzstück bildet das Grundsatzprogramm, welches die grundlegenden Positionen und Haltungen der Partei beschreibt. Das ist das erste, was Interessenten (ob potentielle Wähler, Mitglieder oder Journalisten) über die politische Haltung der Partei erfahren und muss knapp, verständlich und deutlich formuliert sein, ohne sich konkreten tagespolitischen Themen zu widmen, aber auch ohne zu inhaltsleerer Phrasendrescherei zu verkommen. Idealerweise wird der Text dieses Grundsatzprogramms unter Beteiligung aller interessierten Parteimitglieder aus einem Guss formuliert und auf einem Parteitag abgesegnet. Änderungen daran sind zwar möglich, aber nicht vorgesehen und sollten nur mit sehr triftigen Gründen beantragt werden. Daneben gibt es das Parteiprogramm, das in etwa unserem jetzigen Grundsatzprogramm entspricht. Weite Teile des bestehenden Programms können ohne oder nur mit geringen Änderungen übernommen werden. Wichtig ist lediglich, dass die Punkte des Parteiprogramms den im Grundsatzprogramm festgelegten Prinzipien folgen. Dadurch wird sichergestellt, dass das Parteiprogramm nicht zu einem zusammenhangslosen Forderungskatalog verkommt, wie es momentan der Fall ist. Ergänzt wird das Parteiprogramm durch Positionspapiere, die zahlreiche Funktionen übernehmen. Das können detaillierte Ausführungen zu bestimmten Themengebieten sein, aber auch Entwürfe, die eine bestimmte Richtung vorgeben. Positionspapiere bauen auf dem Grundsatz- und Parteiprogramm auf. Falls wir ein funktionierendes System zur Online-Mitbestimmung hinbekommen, beispielweise den Basisentscheid (BEO), werden dessen Beschlüsse meistens ebenfalls die Form von Positionspapieren haben. Schließlich gibt es Wahlprogramme, die von den betroffenen Gliederungen jeweils für eine konkrete Wahl beschlossen werden und sich auf Basis der allgemeinen Programmatik mit ganz konkreten Fragestellungen befassen.

Die Piraten in Hessen haben auf ihrem Landesparteitag letztens beschlossen, das aktuelle Programm auslaufen zu lassen und beim nächsten Parteitag den Aufbau des Programms wieder bei Null zu beginnen. Dass ein solch radikaler Beschluss eine Mehrheit fand, ist ein Zeichen dafür, dass die Probleme unseren bestehenden Programms endlich in der Breite der Parteibasis erkannt wurden. Eine grundlegende Umgestaltung unseres Parteiprogramms auf Bundesebene wäre eine Chance, einen Neuanfang einzuleiten, der nach innen wie nach außen überzeugend ist.

 


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